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Filip Haag    Nolens volens

 

«Du zählst Haag also nicht mit?» 
«Nein, er musste zufällig dran glauben.» Henning Mankell


Eigentlich befindet mein Atelier sich auch draussen vor den Türen. Licht, Gewitter, Rinnsale, bemerkenswerte Erosionen und Wachstumsformen, welche die Welt bildeten und bilden, prägen meine Arbeit. Sie erlauben mir, das zu tun, wozu ich geschlossene Räume habe: solche Ereignisse in zwei Dimensionen - auf dem Bild, als Bild - zu simulieren. Dem - zweidimensionalen - Bild fehlt das Räumliche. Es soll und kann dieses Manko aber wettmachen, indem es Raum suggeriert. Ein winziges Bild in Briefmarkengrösse kann ein ganzes Panorama aufmachen. Dazu bedarf es allerdings des Betrachters, und um diesen zu erreichen, müssen Bilder aus dem Atelier raus - vivat, crescat, floreat. Das Atelier ist also Brutstätte (für Konzepte und Realisationen), es ist Labor und Werkstatt, es ist dann aber auch Zwischenlager oder Tiefkühlschrank. Wozu fast 400 Kubikmeter Atelierraum? Die grosse Fläche und die vielen Arbeitsplätze in diesem uralten Hörsaal erlauben, manches über Monate hin liegen zu lassen und an mehreren Arbeiten und Arbeitsgruppen parallel zu arbeiten. Vieles wird dann auch gar nie fertig, und selbst Abfälle können sich auftürmen, ohne dass es eng würde. Mein Arbeitstag besteht eigentlich darin, Rohstoffe herzustellen und dann Spreu und Weizen zu trennen. Abfälle, die man nicht gleich wegräumen muss, haben die Chance, irgendwann doch noch mal wieder ins Spiel zu kommen. Die Grösse meines Ateliers bedeutet aber auch, vermeintlich fertigen Arbeiten doch immer wieder zu begegnen und vielleicht einmal zu erkennen, dass sie alles andere als fertig sind. Sie werden durch weitere Bearbeitung vielleicht doch noch mal zu Abfall - gutta cavat lapidem. Herstellen heisst (in Analogie zur Lage im Schlachthof): etwas zeugen, es wachsen und schlachtfertig werden lassen. Weiterverarbeiten heisst unter gleichen Vorzeichen: es schlachten, zerlegen, ausbeineln und pfannenfertig machen. Also konkret: Bildpartien wieder auslöschen, übermalen oder wegschneiden. Filetstücke werden bevorzugt, anderes wird verwurstet und kann auch ganz gut werden. Habe ich ein mögliches Bild einmal als Rohstoff hergestellt, dann ist es in der Regel so, dass ich nur noch abtrage, nichts mehr hinzufüge. Ich nehme die Spreu weg, ich schaffe Konzentrate - oder eben Filetstücke. Um beim Fleisch zu bleiben: «Wie schaffst du es, im Schlachthof zu arbeiten?» So werde ich oft gefragt. Kein Problem, pflege ich zu antworten, die Welt ist ein weit gnadenloserer Schlachtbetrieb. 

Die lange Reihe meiner (bisher 13) Ateliers erstaunt, auch mich selber, bin ich doch nun seit über 12 Jahren in diesem Hörsaal. Zu meinem ersten Atelier eine kurze Vorgeschichte: Ich wollte nach der Matura eigentlich in die Fotografie, habe aber einen Prüfungstermin nicht wahrnehmen können. Bald fand ich, das bewegte Bild sei vielseitiger. Ich zog nach Zürich und begann - ohne Schule - kurze Experimentalfilme zu drehen.
Als ein Kurzspielfilmprojekt nicht zu finanzieren war, war es mir zu blöd, über Monate hin an einem Projekt gefeilt zu haben, aus dem letztlich nichts wurde als Makulatur. So wollte ich es fortan beim Schreiben (von Essays, Gedichten und Epifanien) bewenden lassen und schrieb viel - alles für die Schublade. Ich fand, da sei noch viel zu tun und wollte nichts publizieren.
Als ein guter Freund und Kenner mich mit James Joyce verglich und ich zugleich wahrnahm, dass meine Sprache sich immer bildhafter gebärdete, war es aus mit dem ambitionierten Schreiben. Ausserdem realisierte ich, dass ich mich nun zwar im Schreiben, nicht aber im Reden gewählt ausdrücken konnte.
Schreiben befand ich als ein zu einsames Geschäft, ich wollte kommunizieren.
Auch hatte ich realisiert, dass aus mir nie ein Romanautor werden sollte. Zu sehr interessierte mich die kleine Geschichte und der einzelne Satz, das Kondensat, das Filet. Schwartenmagen in Sülze sind meine Sache nicht. Und wenn schon immer bildhafter, dann doch gleich mit dem Pinsel. Ich wurde Maler. Dies war auch der Moment, das Studium der Kunst- und Literaturgeschichte zu beenden, das ich - parallel zu all diesen Umbrüchen - auch betrieben hatte. Ich wurde also Maler und brauchte ein Maleratelier. In meinem fünften schuf ich dann meine ersten Bilder. Aber erst noch kurz zu den ersten vier. Zum Filmen und zum Schreiben braucht man eigentlich keins. Ich hatte auch keins. Allerdings stellte ich beim Schreiben stets - im Innersten Handwerker - ein Manko an Materialität, an Greifbarem fest. Deshalb hatte ich, um der heimlichen Sehnsucht nachzukommen, angefangen, Ton zu modellieren. So füllte sich meine Studentenwohnung - klein wie ein erweiterter Wandschrank - rasch mit absonderlichen Gebilden. Sie wurde fast unbewohnbar und war also schleichend mein erstes Atelier geworden. 
Ich fand in der Nachbarschaft ein unbewohntes leeres Haus: Atelier 2. Es war allerdings Herbst, und dem Haus fehlte natürlich die Heizung. Ich kaufte also ein Heissluftgebläse für die Beine. Als es nach einigen Wochen (im Unterschied zu den paar Ton-Gebilden) geklaut wurde, realisierte ich folgendes: Erstens brauchen die Leute erst Wärme, dann erst Kunst. Zweitens müssen Künstler leiden. Dies hatte ich zwar theoretisch schon längst gewusst, es stimmt aber übrigens auch gar nicht: Künstler leiden keinesfalls mehr als Andere, denn sie haben ein Atelier. Allzu kalt darf es allerdings nicht sein, und so zog ich im Winter wieder aus. 
Mein nächstes Atelier befand sich in Berlin. Ich schrieb wie besessen - am Schreibtisch - und ich stieg immer wieder aufs Hausdach, um Wind- und Kaminstudien zu betreiben - mit Bleistift, und wieder mit Ton. Daneben trieb ich mich in der geteilten Stadt auf einem unbenutzten Gleisdreieck rum und sammelte "objets cherchés". Ich verwurstete gewissermassen meine Existenz in der Stadt zu einem Sammelsurium von Texten, Objekten und Skulpturen - ich war immer im Wind, wurde aber nie aber weggeblasen. 
Ich blieb ein Jahr, dann zog ich - die Liebe! - nach Köln. Atelier 4 war dort wieder ein Dach, und wieder eine vorübergehend leere Wohnung, die eines virtuellen Malers ohne Werk, eine geheizte. Kunstwerke wollte ich hier erstellen, ich begriff mich allerdings noch keineswegs als Künstler. Mein Werk blieb hier klein. Zu gross war die Liebe (zu einer Malerin übrigens).
Zu gross war die Liebe. Sie musste kippen. Ich verliess diese Stadt, in der gewinnt, wer sich als Sieger gibt, und hatte auf einmal keine Adresse mehr. 
Da in Bern mein Elternhaus für mehrere Wochen leer stand, zog ich zurück in mein Kinderzimmer. Ich packte allerdings kaum etwas aus. Die alten Teppiche lagen noch da, wenn auch die Wände frisch gestrichen waren. Kurz: Nix wie wieder weg. Dennoch vollbrachte ich noch einige Bilder, vor allem im Garten, ziemlich klaustrophobe. Es waren meine ersten Gemälde. Vom Schreiben liess ich fortan zunehmend die Finger. Und das Studium war auch gelaufen - ich glaubte nun zu wissen, was der Kunstgeschichte noch fehlte, und ich wollte mich daran machen, die Lücken zu füllen. 
Atelier 6 lag in der Berner Altstadt, an der Brunngasse über dem Brunnen. Der liess mich mit seinem Plätschern nicht schlafen, wohl aber arbeiten.
Alles lief nun wie geschmiert. Hier war also meine erste richtige Arbeitsadresse. Weil ich aber nur Untermieter war, musste ich nach wenigen Monaten schon wieder von dannen. 
Ich geriet ins Atelier Nummer 7, eine gediegene Terrassenwohnung, in der man Nägel ins Parkett schlagen konnte, weil sie bald darauf renoviert werden sollte. Diese Adresse teilte ich mit einem Freund, der dort ebenfalls Bilder malte. Als die Nägel wieder aus dem Holz gezogen wurden, gings ab ins nächste Provisorium, die momentan leere Wohnung eines alten Schulfreundes. Ich verliess sie allerdings gleich wieder, als dessen Freundin dort eine buddhistische Meditation veranstaltete, die sie mit vielen Räucherstäbchen eröffnete. Steter Wechsel hat den Vorteil, dass man nicht geräuchert wird und sich nicht einnistet. 
Immerhin kam ich dabei auf meinem Weg voran. Von hier aus gings für einige weitere Monate auf den Spannteppich im Obergeschoss eines Modeateliers. Immerhin lag es oben, mein Atelier Nummer 9. Ich wollte hier einfach malen, kalt duschen und Strom sparen. 
Im Atelier 10 hauste ich dann wieder auf Parkett. Das Terrain war hart, die Nachbarin böse. Erstmals fand ich, dass ich hier ohne Obsession einem Beruf nachgehe, und erstmals teilte ich die Wohnung - wenn auch nicht das Atelierzimmer - mit einer geliebten Frau. Sie wurde dann und ist die Mutter meiner drei Kinder. 
Diese Bemerkung und Tatsache bedeutete bald einmal, mir wieder ein externes Atelier zuzulegen, die Nummer 11 - Es lag in Burgdorf, wieder mal in einem Abbruchobjekt. Wieder teilte ich es mit meinem malenden Freund. Das Licht in diesem Atelier war goldig, nirgends konnte ich vorher und nachher meine Werke so schön ablichten wie hier. Und ich startete eine wahre Produktionslawine. Jeden Tag dasselbe: Erst ein Müesli dann Vollgas. Je mehr Bilder es wurden, desto mehr sehnte ich mich nach einer festen Adresse. Ich fand sie vor 12 Jahren hier in diesem Hörsaal am Schlachthof.
Als ich einzog, hingen die noch operationssaalgrün beruhigenden Wände voller Schlachtwerkzeuge, und die Schränke waren gefüllt mit alten Tierpräparaten wie tuberkulösen Kuhlungen und verstopften Hühnereileitern. Ich leerte die Schränke und strich die Wände neu. Auf dem Seziertisch entstanden erste Zeichnungen, an den Wänden grosse Bilder. Ich hatte mehr Arbeitsplätze denn Zuschauer, und ringsum gibts Metzger mit blutigen Schürzen, keine rumhängenden Künstler. 
Ich bin als Randfigur eingezogen, und ich blieb es bis heute. Manchmal teile ich das Atelier, so auch jetzt. Am liebsten wäre mir, wenn eine Querflötistin sich an der Miete beteiligen würde. Mit dem Trompeter aber kann ich auch gut leben. Einmal wäre es fast abgebrannt, weil ich eine brennende Kerze auf dem Seziertisch vergessen hatte. Das Feuer erstickte im eigenen Rauch - so hermetisch kann mein Atelier sein. Um mich herum wird reihenweise gestorben, ich aber bin noch immer da. Unschlachtbar. Media in vita in morte sum. 
Einmal weilte ich für einige Monate in einem Engadiner Kulturzentrum. Ich hatte dort das kleinste von 10 Ateliers gewünscht, und es bekommen. Es lag direkt am Inn, und ich konnte überflüssigen Knochenleim und Fischkleister durchs Fenster entsorgen Jeden Tag malte ich, bevor ich in die Berge hinauf stieg. Hier fand ich - vor acht Jahren - einen ganz neuen Weg, auf dem ich mich, nun langsamer geworden, noch immer bewege. Ich genoss den Austausch mit anderen Künstlern und begann, mir nicht mehr wie ein Genie vorzukommen.
Ich wurde normal. Seit ich in Spiez wohne, habe ich dort noch ein zweites Atelier, ich nenne es «Büro». Es ist das Gegenteil von einem Hörsaal: klein, eng, niedrig und dunkel. Ich verrichte hier die Feinarbeit. Wenn ich im Hörsaal mit Feuer, Lösungsmitteln und Chemikalien operiere, so betreibe ich im «Büro» gewissermassen die chirurgische Feinarbeit. Für späte und dringende Arbeiten ist es gut. Und es ist ein wahrer Luxus, denn der Weg zum Bett ist nicht weit.

2002

 

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