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Balts Nill

Wege, Sackgasssen und Kehrtwendungen

 

Viele der Bilder von Filip Haag sind das Resultat von Umwegen. Also wähle auch ich einen Umweg, um mich seinen Bildern anzunähern.

Der Umweg beginnt mit einer Fussnote: Am Ende eines Textes zu Bildern von Filip Haag («Die Thunersee-Gebilde», 2008) gibt der Autor Harald Krämer einige Lektüre-Empfehlungen ab. Unter anderem: Italo Calvinos «Die unsichtbaren Städte».

Was dieses Buch mit den Bildern von Filip Haag zu tun hat, das lässt der Autor offen. Aber ich nehme den Steilpass gerne an: Calvino gehört zu meinen Lieblingsautoren, und die «Unsichtbaren Städte» begleiten mich, seit ich das Buch vor vielen Jahren geschenkt bekommen habe. Wohl nicht zufälligerweise von einem Maler.

Das Buch hat eine seltsame Eigenschaft: Obwohl ich es schon mehrere Male durchgelesen habe, erscheint es mir jedes Mal wie neu. Dieselben Worte, aber immer wieder andere Bilder. (Was auch damit zu tun haben mag, dass ich trotz mangelhafter Italienischkenntnisse meistens die Originalausgabe zur Hand nehme).

Einen Roman kann man Calvinos Buch nicht nennen, eher ist es ein aus Worten gefertigtes Kaleidoskop.

Die Rahmenhandlung: Marco Polo berichtet Kublai Khan, dem Mongolenherrscher und Kaiser von China, von seinen Reisen quer durch das Reich, das der Kaiser selber (der wie eine Bienenkönigin in seinem Palast sitzt) nie mit eigenen Augen gesehen hat und auch nie sehen wird. Calvinos Marco Polo indes ist ein Träumer und Flunkerer, und seine Inspektionsreisen im Auftrag des Kaisers sind treffender als Introspektionsreisen zu bezeichnen. Das ahnt auch der Kaiser, und am Ende finden die zwei zusammen in einer Art Phantasie- Gemeinschaft.

Die Tagtraum-Städte, die aus diesem Dialog erstehen, scheinen allerdings (durch die Feder Calvinos) so real, dass man zuweilen glaubt, man habe sich schon einmal in ihnen aufgehalten.

Da gibt es die Stadt Baucis, die auf hohen Stelzen steht.

 «Drei Hypothesen gibt es über die Einwohner von Baucis: dass sie die Erde hassen; dass sie genug Respekt vor ihr haben, um jeden Kontakt mit ihr zu meiden; dass sie die Erde lieben, so wie sie vor ihnen war, und nicht müde werden, sie mit abwärts gerichteten Ferngläsern  und Teleskopen zu bewundern, Blatt für Blatt, Stein für Stein, Ameise für Ameise, um fasziniert die eigene Abwesenheit zu betrachten.»

Oder es gibt die Stadt Valdrada, die am Ufer eines Sees gebaut ist. 

«So sieht der Reisende, wenn er ankommt, zwei Städte: eine aufrechte über dem See und eine umgekehrte, gespiegelte…Der Spiegel macht den Wert der Dinge bald grösser, bald kleiner…Die beiden Valdradas leben füreinander, schauen sich immerfort in die Augen, aber sie lieben sich nicht.»

Eine andere Stadt bewahrt alle die Möglichkeiten auf, wie und was sie auch hätte werden können:

«Im Zentrum von Fedora, einer Metropole aus grauem Stein, steht ein Palast aus grauem Metall mit einer gläsernen Kugel in jedem Raum. Schaut man in die Kugeln hinein, erblickt man in jeder eine blaue Stadt, die das Modell eines anderen Fedora darstellt. Es sind die Formen, welche die Stadt hätte annehmen können, wenn sie aus dem einen oder anderen Grunde nicht so geworden wäre, wie wir sie heute sehen.»  

Nach diesem Streifzug durch Calvinos unsichtbaren Städte wende ich mich nun den Bildern von Filip Haag zu. Nicht dass diese in irgendeiner Weise Calvinos Text illustrieren würden. Aber ich beobachte, dass mein Geist bei Calvino wie bei Hag in ähnlicher Weise angeregt wird: Die Imaginationen im Buch und auf der Leinwand wecken den in mir schlummernden Möglichkeitssinn.

 

Wenn Filip Haag zu malen beginnt, dann hat er kein Thema, kein Ziel vor Augen, ausser: dass ein Bild entstehe. Nicht ein Bild von oder über etwas, sondern: Ein Bild. 

Das ist wohl die minimalste Vorgabe, die sich ein Maler geben kann. Filip Hag schreibt mir in einer Mail: «Wer keinem Ziel folgt, den lockt manche Richtung, nicht nur eine». Er weiss um die Problematik dieser künstlerischen Position. Der Markt will gern mehr vom Gleichen, sobald etwas erfolgreich ist. Und künstlerisch droht das Streben in viele Richtungen sich im Vagen zu verlieren.

Weiter schreibt er:  «Was anders, planerischer vorgehende Künstler misstrauisch macht, nämlich Wege, die Sackgassen sind, nehme ich gerne in Kauf. Sie führen zu Kehrtwenden, erzählen vom Reichtum des Lebendigen, von seinen Unwägbarkeiten.»

Normalerweise bekommen wir Betrachtende vom Malprozess nur das fertige Bild zu sehen. Den Weg dahin können wir bloss erahnen.

Bei den vorliegenden Bildern ist das für einmal anders: Filip Haag hat die verschiedenen Etappen, die zum fertigen Bild führten, dokumentiert und präsentiert sie als «making of».  Zum Beispiel «Stariabulum»: Es beginnt mit einem schwammartigen vertikalen Gebilde; dieses entwickelt sich in Richtung einer (weiblichen?) Figur; dann wird alles übermalen, neu hinzu kommen zeichenartige blaue Schleifen;  dann erscheint ein Kopf; der Kopf  wird zur Büste; und dann schliesslich das fertige Bild: das Porträt eines Wesens, halb Tier, halb Mensch, das den Betrachter mit seinem rechten Auge in den Blick nimmt.

Warum ist das Bild hier, bei der sechsten Etappe fertig, und nicht schon vorher, bei den hübschen Schlaufen in der dritten Etappe – oder könnte es auch über Etappe 6 hinausgehen?

«Ich muss den Moment finden, wo ein Zustand noch optimierbar ist – und dann das Optimum verpassen. Nicht festmalen und versteifen und vernageln. Vague bleiben…wo Formen nicht klar und unverkennbar sind, da setzen sie die Vorstellung in Gang, das Vorstellungsvermögen.»

Das Optimum verpassen! Kein Idealbild herstellen, sondern die Unfertigkeit als Triebkraft des Vorstellungsvermögens nutzen. 

«Wandern von Bild zu Bild – weil ich auf der Suche bin und nur an Zwischenzielen ruhe. Der Horizont bleibt unerreicht, aber bis da geht alles.»

 

Alles geht. Aber nicht anything goes.

Denn da ist eine Beschränkung auf wenige Formate und zurückhaltende, abgetönte Farben  – immer mit einer Spur Gold drin, das aber nur selten an die Oberfläche dringt. Nichts Buntes, nichts Grelles.

Das Spiel der Möglichkeiten findet auf einem begrenzten Spielfeld statt. Und wie jedes gute Spiel bindet es auch den Zufall mit ein.

Dem Zufall haftet indessen ein etwas zweifelhafter Ruf an. Sich dem Zufall anzuvertrauen, heisst aufs Glück zu hoffen. Ein Zufallswerk hat den Ruch des Unverschämten. Es kann nicht Frucht ernsthafter Arbeit sein. 

Man kann den Zufall aber auch anders sehen: Als einen Mitgestalter, der dort, wo der Wirklichkeitssinn zum Bremsklotz wird, neue Wege erschliesst. Um ihn so einzusetzen, bedarf es einer besonderen Aufmerksamkeit. Denn die wenigsten Zufälle drängen sich als spektakuläre Ereignisse auf. Die allermeisten Zufälle werden übersehen, weil sie sich in unbeachteten Bereichen abspielen. Um solche Zufälle zu entdecken, müssen die Sinne erst einmal ausgebildet werden. Diese Ausbildung - das Gras wachsen hören; unsichtbare Städte entdecken – ist eine aesthetische Disziplin. Lernen, den Zufall als Spürhund des Möglichkeitssinns einzusetzen.

 

Wenn sich der Wirklichkeitssinn am Sichtbaren, Überprüfbaren bewähren muss – woran hat sich der Möglichkeitssinn zu bewähren?

Ich möchte behaupten: An Kriterien der Aesthetik. Diese sind zwar nicht objektivierbar wie die Kriterien des Wirklichen, aber sie sind auch nicht bloss willkürlich. Sie manifestieren sich auf je eigene Weise in jedem einzelnen Kunstwerk (sofern es gelungen ist). Hier möchte ich, sozusagen für den Hausgebrauch, einen Definitionsversuch vorschlagen: Schön ist, was die Sinne schärft und den Geist wach hält. 

 

BOLOBULUS; FANALION; RADIWANIA…

Was bedeuten diese Titel? 

Nada. No thing.

Buchstabenkombinationen, die nichts weiter sind als Namen für die Bilder. Volltreffer, wenn sogar Google ins Leere stösst.

Ursprünglich wollte Filip Haag Autor werden. Bei seinen literarischen Versuchen aber merkte er: Er hat keine «Geschichten« in sich, die er zu komplexen Konstellationen und Handlungen weiterspinnen könnte. Stattdessen interessieren ihn Weggabelungen und Etappen, welche Momente der unmittelbaren Wahrnehmung ermöglichen.

«Immerhin: Wo Interaktionen, Handlungsstränge, Psychologien mich nicht binden konnten, da fand ich an der Stelle Kontraste, Umkehrung, Spiegelung und Schatten…Phänomene der Wahrnehmung, denen ich mich (den visuellen zumindest) hingeben mochte.»

 

LESORILAM, RADIWANIA, SARAPILUM

Alle diese unerzählten Geschichten vor Augen.

 

Nachdem ich ihn in seinem Atelier besucht habe und schon vor dem Lift stehe, eilt mir Filip Haag nach und drückt mir ein Buch in die Hand. Er hat es zufälligerweise vor wenigen Tagen in einer Mitnehm- Kiste am Strassenrand gefunden: «Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend», das letzte Werk von Italo Calvino. Es sind Vorlesungen, die dieser im Jahr 1985 an der Harvard- Universität hätte halten sollen. Dazu kam es nicht mehr, Calvino starb, bevor er in die USA reisen konnte. 

Die sechs Vorlesungen sind ein flammendes Plädoyer für die Einbildungskraft.

In der vierten Vorlesung, die den Titel «Anschaulichkeit» trägt, notiert er:

«Es gibt …eine Definition, mit der ich mich völlig identifizieren kann, nämlich die von der Phantasie als Repertoire des Möglichen, des Hypothetischen, dessen was nie existiert hat und vielleicht nie existieren wird, aber existiert haben könnte».

Und mit einem Blick auf die sich abzeichnende Zukunft fragt er:

«Wird sich die Fähigkeit, Bilder in Abwesenheit der Dinge heraufzubeschwören, noch in einer Menschheit entwickeln, die immer mehr von der Sintflut vorfabrizierter Bilder überschwemmt wird?» Mit verhaltenem Optimismus macht er einen Vorschlag, der im 21. Jahrhundert zu beherzigen wäre:

«Was mir vorschwebt, ist eine Pädagogik der Einbildungskraft, die uns dazu erziehen müsste, unsere innere Sicht zu kontrollieren, ohne sie zu ersticken und ohne sie auf der anderen Seite in eine konfuse, labile Phantasterei verfallen zu lassen… «

 

Filip Haags Bilder sind keine Hirngespinste, sondern handgemachte, dem Material entsprungene Phantasien. Sie haben etwas Konkretes, Haptisches an sich. Pflanzliches, Tierisches und Menschliches geht ineinander über und vermischt sich. Es entstehen wunderliche Wesen, geschöpft aus dieser Welt und doch nicht ganz von dieser Welt. 

(publiziert in WIEDER SCHEITERN – BESSERN SCHEITERN, Edition Haus am Gern 2023)

 

 

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